Kann jede Person Schlagzeug Spielen lernen? (Teil 3)
Von Marc Seefried
Willkommen im dritten Teil unserer vierteiligen Reihe zur Auflösung der Mythen, die einen angeblich am Erlenen des Schlagzeugspielens hindern. Nachdem wir in den vorherigen beiden Artikeln gezeigt haben, dass Rhythmusgefühl erlernt werden kann und Talent gegenüber regelmäßiger und strukturierter Übemethodik eine untergeordnete Rolle spielt, widmen wir uns nun dem dritten Mythos. Dieser beschreibt das wohl augenfälligste Merkmal des Schlagzeugspielens, das sowohl Nicht-Schlagzeugerinnen als auch Schlagzeugerinnen z. T. gleichermaßen fasziniert: die scheinbare Unabhängigkeit der vier Gliedmaßen.
Doch keine Sorge – ich zeige dir, dass auch diese Herausforderung bewältigt werden kann.
Der Mythos der unabhängigen Gliedmaßen
Wenn man sich anschaut, welche komplexen Überlagerungen von rhythmischen Melodien einige Schlagzeuger*innen mit ihren vier Gliedmaßen erzeugen können, kann das recht einschüchternd wirken. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass auch hier immer nur mit Wasser gekocht wird und dass der Begriff der „Unabhängigkeit“ eigentlich irreführend ist.

Warum der Begriff der „Koordination“ treffender ist
Nicht zuletzt aus diesem Grund scheint sich mittlerweile auch der Begriff der „Koordination“ zu etablieren. Der stellt etwas besser dar, dass es insbesondere beim Erlernen dieser Bewegungsabläufe nicht darum geht, einfach zu versuchen, Bewegungen unabhängig voneinander durchzuführen. Es geht viel mehr darum, sich vor Augen zu führen, wie bei einer Sequenz von Bewegungen die einzelnen Gliedmaßen ineinandergreifen. So gesehen geht es eigentlich nicht um Unabhängigkeit, sondern um Abhängigkeit: Wann spielen Körperteile gleichzeitig und wann nicht.
Schlagzeugspielen ist binär
Mach dir klar, dass die Natur des Schlagzeugspielens zutiefst binär ist – es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder Gliedmaßen spielen gleichzeitig, oder sie spielen abwechselnd. Egal wie viele deiner Gliedmaßen involviert sind und egal wie rhythmisch komplex die Dinge werden können, an dieser grundlegenden Konstellation ändert sich nichts. Wenn wir nun also Rhythmen am Schlagzeug lernen, dann bedeutet das, dass wir uns einprägen, in welcher Reihenfolge unsere Gliedmaßen abwechselnd oder gleichzeitig koordiniert werden – Schlag für Schlag.
Der Weg zur Koordination: Geduld und Wiederholung
Um selbst komplexeste Rhythmen oder Schlagzeuggrooves lernen zu können, brauchst du deshalb nicht etwa vier Gehirne, mit denen du jede deiner Gliedmaßen individuell ansteuern kannst, sondern du brauchst in erster Linie Geduld. Jeder professionelle Schlagzeugerin weiß, dass es einzig und allein darum geht, im langsamen Tempo Bewegungsabläufe einzustudieren und durch eine ausreichend hohe Anzahl von Wiederholungen die neuronalen Pfade zu verfestigen, sodass die zu erlernenden Bewegungen in Fleisch und Blut übergehen. Wenn du diesem Prozess vertraust und die notwendige Anzahl von Wiederholungen investierst, kannst auch du prinzipiell jeden Bewegungsablauf verinnerlichen.
Multitasking: Eine Illusion
Genau so, wie wir nicht zwei Gedanken gleichzeitig denken können, ist es prinzipiell unmöglich, sich zu einem gegebenen Zeitpunkt auf mehr als eine Sache zu konzentrieren. Echtes Multitasking – also die Fähigkeit, mehrere Dinge parallel zu tun – ist nachgewiesenermaßen unmöglich. Das ist auch für Schlagzeuger*innen nicht anders.
Stichwort: Automatiserung
Erst dadurch, dass Menschen, die schon einige Zeit am Schlagzeug verbracht haben, eine gewisse Zahl verschiedener koordinierter Bewegungsabläufe verinnerlicht und automatisiert haben, und dann auch in der Lage sind, diese Bewegungsabläufe miteinander zu kombinieren, entsteht die Illusion, dass sie ihre Gliedmaßen unabhängig voneinander steuern können. Selbst wenn alle vier Gliedmaßen gleichzeitig spielen, kann der Fokus in einem gegebenen Moment immer nur auf einer Gliedmaße liegen, deren rhythmische Melodie dann bewusst geformt werden kann.
Fokus - das Wandern des Lichtkegels
Je erfahrener die Person ist, umso schneller kann sie den Fokus zwischen den Gliedmaßen wechseln, was dann die Tatsache verschleiert, dass dennoch nur jeweils eine Melodie zu einem gegebenen Zeitpunkt spontan modelliert werden kann, aber an dieser grundlegenden Wahrheit ändert sich dadurch nichts.
Kleine Schritte zum Erfolg
Des Weiteren darf man nicht vergessen, dass all diese Fähigkeiten schrittweise aufzubauen sind. Deshalb beginnt man in der Regel auch nicht damit, alle vier Gliedmaßen zu involvieren, sondern konzentriert sich Schlag für Schlag auf die Beziehung von zwei oder maximal drei Gliedmaßen zueinander.
Gehirngerecht lernen: Vertraue dem Prozess
Eventuell klingt das in deinen Ohren nun sehr zäh und zeitaufwendig und in der Tat wäre es gelogen zu sagen, dass nicht Zeit und Disziplin die entscheidenden Faktoren auf dem Weg zum Erfolg sind. Du wärst aber sicherlich überrascht, was dein Körper und dein Gehirn in der Lage sind zu leisten, wenn du dem Prozess vertraust und Bewegungsabläufe „gehirngerecht“ verinnerlichst.
Erfolgserlebnisse schon nach der ersten Stunde
Tatsächlich habe ich bislang noch niemand getroffen, der nicht nach der ersten Unterrichtsstunde einen ersten Groove und einen ersten Drumfill spielen konnte. Dadurch, dass das Schlagzeug ein so unmittelbares, körperliches Instrument ist, durchschaut man schnell, wie man bestimmte Klänge aus dem Instrument herausholt. Die Tatsache, dass man auf eine Spieloberfläche schlägt und dadurch den entsprechenden Klang erzeugt, sorgt dafür, dass man optisch und akustisch sehr schnell versteht, was zu tun ist.
Der Rest ist die Geduld, sich Schlag für Schlag bestimmte Choreographien der Gliedmaßen einzuprägen.
Alltägliche Bewegungsabläufe als Beispiel
Solltest du nach wie vor nicht überzeugt sein, dass auch du dieser koordinatorischen Herausforderung gewachsen bist, dann denke einmal über alltägliche Bewegungsabläufe nach, die den koordinatorischen Anforderungen des Schlagzeugspiels vielleicht gar nicht unähnlich sind.
Ich denke hier in erster Linie ans Autofahren: Lenken, Schalten mit der rechten Hand, Kuppeln mit dem linken Fuß, Gas geben und Bremsen mit dem rechten Fuß, Blinken, Gucken, Sprechen usw. Wenn man diese Choreographie des Autofahrens aus der Ferne betrachtet, könnte man zu der Schlussfolgerung kommen, dass es sich hier um hochkomplexe Bewegungsabläufe handelt und es eigentlich unmöglich sein dürfte, all diese Dinge gleichzeitig zu tun. Und trotzdem ist Autofahren für die meisten das Normalste der Welt.
Chunking
Daran zeigt sich, dass, sobald bestimmte Aspekte einer Choreographie verinnerlicht sind, man genügend Rechenleistung im Gehirn zur Verfügung hat, um sich entweder aktiv am Straßenverkehr zu beteiligen, oder – im Falle des Schlagzeugspielens – an musikalischer Interaktion mit seinen Mitmusiker*innen.
Videospiele als Vergleich
Um vielleicht noch ein Beispiel zu nennen, das sich nicht ausschließlich auf die Erfahrungswelt erwachsener Personen beschränkt, könnte man auch auf Videospiele verweisen. Egal ob mit Controller oder Tastatur – auch bei Videospielen müssen die Hände, bzw. sogar einzelne Finger in recht komplexen Choreographien mit Ereignissen auf dem Bildschirm koordiniert werden, was in seiner grundsätzlichen Form den koordinativen Anforderungen des Schlagzeugspielens meiner Ansicht nach ebenfalls sehr ähnlich ist.
Fazit
Solltest du dich von diesem letzten Beispiel nicht angesprochen fühlen, weil du der Ansicht bist, zu alt für Videospiele zu sein, dann hoffe ich, dass die Entzauberung des nächsten Mythos den Knoten für dich platzen lässt: „Ich bin zu alt um Schlagzeugspielen zu lernen.“